Fachliche Kritik am BMUV-Prüfvermerk zur Laufzeitverlängerung der letzten sechs (!) Kernkraftwerke

Ich teile nicht die gelegentlich geäußerte Ansicht, dass die Papiere von BMUV und BMWK dazu geeignet sind, die Debatte um eine Laufzeitverlängerung zu beenden. Man sieht ihnen an, dass die Experten in der Reaktorsicherheitskommission und der Gesellschaft für Reaktorsicherheit nicht konsultiert wurden. Daher prägen etliche vermeidbare Falschaussagen sowohl die Stellungnahme des BMUV als auch die FAQ des BMWK. Die Diskussion in der Öffentlichkeit sollte und wird hoffentlich bald kompetenter geführt werden.  Ich greife hier nur ein paar wenige Punkte heraus.

RECHTLICH:

  • Der Herr gibt’s, der Herr nimmt’s. Der Bundestag müsste jetzt in der Tat eine Laufzeitverlängerung beschließen, er hat aber gerade nach der BVerfG-Rechtsprechung einen großen Interpretationsspielraum (Einschätzungsprärogative). Eine Gesetzesänderung, die im Atomgesetz das Genehmigungsverbot für Kernkraftwerke und die Konstruktion von „Reststrommengen“ aufhebt, läge in der Kompetenz des Bundestags.
  • Eine Vorbereitung für eine solche Entscheidung muss mitnichten eine volle UVP einschließlich Öffentlichkeitsbeteiligung beinhalten. Bei der Laufzeitverlängerung 2010 wurde die Öffentlichkeit zwar umfangreich eingebunden, bei der Laufzeitverkürzung 2011 aber nicht. Stattdessen wurde in einem fragwürdigen Verfahren die AtG-Novelle 2011 durch eine Ethikkommission, aber ohne Berücksichtigung fachlichen Rats beschlossen (s. dazu die Kritik von André Thess).
  • Gerade der Entscheidungsprozess von 2010 zur LZV sollte berücksichtigt werden. Es war das einzige Mal in der Geschichte der Energiepolitik, dass eine Gesetzesänderung in einer formellen Güterabwägung beschlossen wurde. Alle anderen Änderungen der Energiegesetzgebung seit 1998 (vielleicht früher, das habe ich nicht untersucht) verzichteten auf eine Güterabwägung bspw. nach Art. 20a.
  • Die Behauptung, dass Kernkraft eine Hochrisikotechnologie sei, hat nie gestimmt, auch unter Berücksichtigung von Tschernobyl. (In Fukushima gab es nur einen anerkannten Strahlungstoten, einen Raucher mit Lungenkrebs.) Der Bundestag könnte in Übereinstimmung mit dem Stand der Wissenschaft anerkennen, dass Kernkraft eine Niedrigstrisikotechnologie ist, das BVerfG müsste dem folgen.
  • In Zeiten einer nationalen, schweren Energiekrise dürfte das BVerfG den Ermessensspielraum des Gesetzgebers erst recht großzügig bewerten.
  • Problematisch ist, dass die Mitarbeiter des BMUV nicht den Unterschied zwischen Betriebsgenehmigung – diese liegt für alle Anlagen auch während der Zeit des Rückbaus vor – und der Genehmigung zum Leistungsbetrieb – diesen haben nur noch die letzten drei Kernkraftwerke Emsland, Neckarwestheim und Isar 2 – kennen. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass fachliche Qualifikation im BMUV nicht in hinreichender Menge vorhanden ist.

TECHNISCH:

  • In allen sechs Anlagen, die letztes Jahr vom Netz gingen oder noch laufen, sind sämtliche Post-Fukushima-Maßnahmen umgesetzt, die gewährleisten, dass die Anlagen auch eine Kernschmelze beherrschen und die Umgebung dabei nicht gefährden.  Neue Anforderungen gibt es nicht, daher schätzen die Kraftwerker den technisch notwendigen Kostenaufwand für einen Weiterbetrieb auf etwa eine Milliarde Euro für alle sechs Anlagen zusammen. In der Tat müssten bestimmte Komponenten ausgetauscht werden, das ist für die Betreiber aber Routine.
  • Die periodischen Sicherheitsüberprüfungen sind keine harte Genehmigungsbedingung, sondern eine Art zusätzliche Supervision für Kernkraftwerke. Nirgends steht, dass der Gesetzgeber die PSÜ nicht zeitlich so strecken könnte, dass Stillstandszeiten vermieden werden könnten.
  • Kernbrennstoff ist nicht wie eine Kerze, die herunterbrennt und danach ist nichts mehr übrig. In Grafenrheinfeld wurden in den Jahren 2013-2015 Brennelemente über das „Ablaufdatum“ weiterbetrieben, zweieinhalb Jahre lang, nach Umsortierung der Brennstäbe in den Brennelementen allerdings nur noch mit abnehmender Reaktorleistung (vgl. Eintrag in PRIS-Datenbank). Hintergrund war der Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Kernbrennstoffsteuer. Diesen Streckbetrieb erlauben alle sechs noch betriebsbereiten Anlagen, und dabei würden noch erhebliche Mengen an zusätzlicher elektrischer Energie erzeugt werden können.
  • Neue Brennelemente könnten nach Aussagen der französisch-deutschen Hersteller wegen Unterauslastung deutlich schneller als sonst üblich hergestellt werden (12 Monate). Eine Brennstofflücke könnte daher leicht vermieden werden.
  • Selbst unter militärischem Beschuss eines Kernkraftwerks heutiger Bauart ist ein Schadensszenario nur schwer konstruierbar, in dem relevante Mengen an radioaktivem Material in die Umgebung gelangen könnten. Das gilt für die VVER-1000 in der Ukraine und mindestens ebenso für die deutschen Anlagen.
  • Relevant ist allenfalls die Ersatzteilbevorratung. Diese steht einem Weiterbetrieb der Anlagen allerdings nicht entgegen, sondern erhöht nur das Risiko ungeplanter Ausfälle in der Zukunft.  Neue Lieferketten könnten aufgebaut werden, die sechs verbliebenen deutschen Anlagen machen weltweit ja nur <2% aller Anlagen aus.

BETRIEBLICH & WIRTSCHAFTLICH:

  • Nach übereinstimmenden Aussagen von Betriebsräten und Mitarbeitern in den sechs Anlagen würden viele Betriebs-Mitarbeiter auf ihre Frühverrentung verzichten, wenn es die Perspektive für einen Weiterbetrieb gäbe. Selbst für einen langfristigen Weiterbetrieb könnten in der Zwischenzeit jüngere Betriebsmannschaften aufgebaut werden, die Fachkunde-Ausbildung zum Reaktorfahrer dauert „nur“ drei Jahre, die überbrückt werden könnten.
  • Es gibt viele Falschinformationen über den vermeintlich fehlenden Versicherungsschutz von Kernkraftwerken. Die Anlagen können aber jederzeit weiter versichert werden mit angesichts des sehr niedrigen Risikos eines größeren Unfalls recht überschaubaren Versicherungsprämien von ca. 25 Mio. Euro im Jahr. Daran würde auch ein Weiterbetrieb nichts ändern.
  • Die Rolle der Eigner, die sich eine stärkere Rolle des Staates als Quasi-Betreiber wünschen, wäre in der Tat zu hinterfragen. Wir haben schon letztes Jahr gesagt, dass eine per Staatsvertrag garantierte Laufzeitverlängerung um mindestens 15 Jahre, besser 20 Jahre nötig wäre, um die Betreiber zu motivieren, eine sprunghafte Politik in atompolitischen Fragen zu riskieren.
  • Derzeit sind die Gaspreise höher als die Kohlepreise, daher ist es grundsätzlich richtig, dass mehr Kernkraft erst die Kohle, dann die Gaskraft aus dem Stromnetz drängt. Da es hierfür ein komplexes Zusammenspiel zwischen Brennstoff- und CO2-Preisen gibt, kann sich die Lage jederzeit ändern.  
  • Dass ernsthaft diskutiert wird, statt der Kernkraft zunächst und noch für lange Zeit Kohlekraftwerke zu betreiben, zeigt die niedrige Priorität von Klimapolitik.
  • Die sechs Anlagen haben zuletzt 64 TWh/a oder ca. 11% des Stromverbrauchs geliefert. Mehr als alle PV-Anlagen zusammen. Diesen Beitrag als irrelevant darzustellen entbehrt jeder faktischen Grundlage.

FAZIT:

Eine Laufzeitverlängerung aller sechs noch heute betriebsbereiten Anlagen wäre die mit Abstand preisgünstigste und effektivste Maßnahme, um kurzfristig Versorgungssicherheit preisgünstig und umweltfreundlich herzustellen. Ich denke, die Diskussion über die Blockadehaltung der Politik hierzu wird erst noch beginnen, und es wäre hilfreich, wenn die Fachminister in Berlin endlich ihre Hausaufgaben machen würden, um Lösungsansätze entwickeln zu lassen, WIE eine Laufzeitverlängerung zu bewerkstelligen ist.  Alle anderen Lösungsansätze, die derzeit eingebracht werden, können erst auf viel längerer Zeitskala Abhilfe schaffen.